"In elf von zehn Fällen gibt es hier Handelfmeter!" (Keno Janssen, ostfriesische Verteidiger-Legende). Foto: Screenshot
"In elf von zehn Fällen gibt es hier Handelfmeter!" (Keno Janssen, ostfriesische Verteidiger-Legende). Foto: Screenshot

Raus mit Applaus, aber viele Fußballfans sind stinksauer auf den englischen Schiedsrichter Anthony Taylor und werfen dem 45-Jährigen vor, er habe das Spiel mit Fehlentscheidungenen entschieden. Die blauen Ostfriesen kieken over d’Wall – schauen über den Tellerrand – und bewerten das Geschehen. Unaufgeregt, wie es nunmal ostfriesische Art ist. Dafür aber klar und deutlich. Und danach verlieren wir kein Wort mehr über dieses Spiel, versprochen.

Die Diskussionen um das Viertelfinalspiel der Europameisterschaft zwischen Deutschland und Spanien konzentrieren sich auf drei Situationen/Entscheidungen des englischen Berufsreferees:

1. „Toni Kroos muss frühzeitig mit Gelbrot vom Platz!“

Der Zweikampf mit Pedri war hart, der spanische Mittelfeldler musste in der Folge früh das Spielfeld verlassen. War es ein Foul? Ja, auch wenn Kroos ballorientiert in dieses Duell geht, so räumt er Pedri doch ab. War es gelbwürdig? Zumindest hätte sich Kroos über eine frühe gelbe Karte nicht beschweren können. Aber: Man darf davon ausgehen, dass Kroos, wäre er verwarnt worden, kein weiteres überhartes Einsteigen produziert hätte. Es wäre also mit ziemlicher Sicherheit zu keiner Situation gekommen, in der Kroos gelbrot hätte bekommen müssen.

Hätte Toni Kroos tatsächlich die gelb-rote Karte sehen müssen?

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2. „Das war doch ein glasklarer Handelfmeter!“

Hier wird es kompliziert. Nicht, weil wir nicht wissen, ob Marc Cucurella den Ball gegen die Hand bekommen hat – das zumindest ist unstrittig. Nein, es geht um die Definition von Handspiel. Und hier wird es tatsächlich chaotisch, denn weiter können sich akademische Lehrmeinung und gesunder Menschenverstand nicht voneinander entfernt befinden. Fakt ist: UEFA-Schiedsrichterchef Roberto Rosetti hatte vor dem Turnier die Linie vorgegeben, die Anthony Taylor befolgt hat: Wenn der Arm, die Hand, nah am Körper sei, so der Italiener, dazu die Bewegung wegführe von der Flugbahn des Balls, so sei es kein Strafstoß. Dass diese Definition für die Praxis untauglich ist und dem Schiedsrichter eine unglaubliche Bürde aufzwingt – das Entscheiden darüber, ob diese Kriterien gegeben sind – ist die eine Seite. Die andere ist, waren diese Kriterien tatsächlich gegeben?

"In elf von zehn Fällen gibt es hier Handelfmeter!" (Keno Janssen, ostfriesisische Verteidiger-Legende). Foto: Screenshot
„In elf von zehn Fällen gibt es hier Handelfmeter!“ (Keno Janssen, ostfriesisische Verteidiger-Legende). Foto: Screenshot

Tatsächlich lautet die Antwort: Nein. Die linke Hand ist weit vom Körper entfernt und vergrößert die Körperfläche, eine Bewegung hin zum Körper ist nicht zu erkennen – zumindest nicht, bevor die Hand den Ball abwehrt. Dazu neigt Cucurella den Oberkörper nach links, womit selbst eine angenommene Bewegung der Hand zurück zum Körper obsolet ist – in der Summe geht die Hand mehr zum Ball als aus der Flugbahn. Was keine Rolle spielt, obwohl es ein wichtiger Aspekt ist: Hat Cucurella eine klare Torchance verhindert? Ja, eindeutig. Die Flugbahn des Balls ging direkt aufs Tor, und es ist unwahrscheinlich, dass Spaniens Keeper Unai Simon diese Situation hätte entschärfen können. Die richtige Entscheidung wäre hier also gewesen, auch nach Berücksichtigung der vorgegebenen Linie von Rosetti: Handelfmeter für Deutschland, mindestens eine gelbe Karte für Cucurella. Dass das noch lange nicht bedeutet, dass Deutschland dann auch in Führung gegangen wäre, sollte klar sein.

Hätte Schiri Taylor hier Handspiel pfeifen müssen?

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3. „Egal, Füllkrug war doch eh vorher im Abseits!“

Thomas Müller schlägt einen langen Pass zu Niclas Füllkrug, der den Ball zu Jamal Musiala weiterleitet. Musiala schießt daraufhin von der Strafraumgrenze, Cucurella wehrt ab. Stand Füllkrug einige Sekunden vor seinem Pass im Abseits? Das ist tatsächlich eine spannende Frage, denn die Fernsehbilder sind hier alles andere als eindeutig. Füllkrugs Arm ist tatsächlich weiter vorn als sein Gegenspieler. Mit dem Arm aber dürfen keine Treffer erzielt werden, deshalb zählen Arme nicht dazu, wenn es um die Bewertung von Abseitspositionen geht. Ansonsten aber ist es faktisch nicht zu beurteilen, ob Füllkrug Millimeter im Abseits stand oder nicht – es gibt schlicht keine Beweise dafür oder dagegen. Zumindest sind die derzeit vorhandenen Screenshots allesamt nicht aussagekräftig, denn entweder sind sie nicht gerade und auf Ballhöhe aufgenommen worden, oder aber es ist nicht zu erkennen, ob es sich um den Moment der Ballabgabe handelt. Die Screenshots, die der X-User „Dagobert95“  teilt, sind hier auch keine eindeutige Entscheidungshilfe, auch wenn der Düsseldorfer es behauptet. Hier gilt also das, was Schiedsrichter gleich im Grundkurs lernen: Im Zweifel für den Stürmer, kein Abseits. Außerdem: In der Situation, als er den Pass auf Musiala durchsteckt, stand Füllkrug definitiv nicht im Abseits – das war einige Ballkontakte davor. Bis wann gilt Abseits überhaupt?

Ist die Aufregung um den nicht gegebenen Handelfmeter eh unnötig, weil Füllkrug vorher im Abseits stand?

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Unser Fazit fällt entsprechend aus. Wir haben das unbestimmte Gefühl, dass die ganzen relativierenden Meinungsäußerungen zu Kroos und Füllkrug nur das Ziel haben, die tatsächliche, eklatante Fehlentscheidung von Anthony Taylor als unwichtig darzustellen, was offensichtlicher Blödsinn ist. Ein nicht gegebener, eindeutiger (!) Handelfmeter in der Verlängerung hat natürlich das Potenzial, ein Spiel zu entscheiden. Hier hat Taylor versagt, auch wenn besonders die britische Presse ihn derzeit massiv verteidigt. Außerdem: Taylor ist Berufsschiedsrichter. Er lebt vom Pfeiffen. Und ausgerechnet so ein Schiedsrichter soll sich bei einer derart eindeutigen Situation nicht einig sein und sogar darauf verzichten, die Szene noch einmal auf einem Bildschirm anzusehen (was zur Folge gehabt hätte, das er sich hätte revidieren müssen)? Hier spielen andere Aspekte hinein: Taylor gilt nicht gerade als Freund des Videobeweises und sieht sich durch den VAR in seiner Souveränität beschnitten. Ausgerechnet in einem seiner wichtigsten Spiele hätte er sich also durch die ungeliebten Fernsehbilder korrigieren müssen. Andere Vermutungen, die besonders aus der italienischen Presselandschaft stammen, lassen wir dagegen unkommentiert.

 

Von togo

Hat Trainerschein und Lust zum Schreiben - gefährliche Mischung. Findet Schirischelte billig und kann Schwalben nix abgewinnen. Höchste erreichte Ligen: Kreisliga (Spieler), Landesliga (Trainer), Oberliga (Funktionär).

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